141 The Ripper

»Stellt euch vor, ich habe eine neue Rolle. Die Uraufführung wird kommenden Sonntag sein.« erklärte Maggie.

»Wirklich? Das ist wundervoll.« begeisterte sich Ann und Tim, ihr neuester Freund erklärte, um auch etwas zu sagen »Kennen wir das Stück?«

Maggie und ihr Mann John hatten wie so oft zu einem privaten Dinner bei Kerzenschein geladen und hatten soeben begonnen sich über die Vorspeise herzumachen, als Maggie es nicht mehr länger aushielt (sie hielt es selten lange aus, ihre Begeisterung für Neuigkeiten im Zaume zu halten); und folgerichtig begann sie ihren Freunden unverzüglich zu berichten.

»Ich denke, ihr kennt die Begebenheit« antwortete Maggie kryptisch auf Tims Frage. Und als sie in Anns weit aufgerissene Augen schaute, die kurz davor waren um die Enthüllung der großartigen Neuigkeit zu betteln, sagte sie einfach »das Stück heißt nur ‚The Ripper’«

»Nach Jack?« erfasste Tim die Sache schnell.

»Genau.«

»Und wen spielst du? Inspector Abberline?« kommentierte Tim ein wenig unpassend sarkastisch, als hätte er ein wenig zu wenig Respekt für Maggies Beruf.

»Nein, bestimmt eines der Mordopfer, oder Maggie?« korrigierte Ann schnell Tims subliminale Verfehlung.

Maggie strahlte und lies die Neugierigen noch etwas zappeln. Humor und Eindruck waren eine Frage des Timings, das hatten sie auf der Schauspielschule immer wieder eingebläut bekommen. Und Wartezeit war die Währung in der bezahlt wurde. Es war sowas von wahr, nicht nur auf der Bühne. Ihr Publikum war überall. Also strahlte sie noch etwas, nahm gemessenen Griffs einen Schluck Rotwein, wischte sich mit der Serviette den Mund und sprach dann endlich »Ich spiele alle Mordopfer.«

»Alle?« entfuhr es Ann.

»Es ist sozusagen die zweite Hauptrolle – nach Jack freilich. Es war die Idee des Regisseurs. Er sagt, für den Ripper sind alle seine Opfer gleich. Wahrscheinlich ist jedes Opfer für ihn ein und dieselbe Frau an derer Statt er die Fünf ermordet, dieselbe Frau, die er praktisch fünf Mal ermordet – und verstümmelt. Daher werden seine Verstümmelungen auch mit jeder Tat extremer. Er begeht immer und immer wieder denselben Mord an derselben Frau und jedes Mal lebt er seine kranken Fantasien ein Stück weiter aus.«

Schweigen und beifälliges Nicken. Offenbar lies man kollektive Erinnerungen an die zeitgenössischen Polizeifotos der wirklichen Opfer vor dem inneren Auge passieren und erging sich in gepflegtem Schaudern angesichts der überaus realen und überaus ’saftigen‘ Gräueltaten.

»Naja, alle Fünf haben ja eh nur eine kurze Rolle« kommentierte Tim schließlich trocken, worauf hin er einen Tritt von Anns nacktem Fuß unter dem Tisch gegen sein Schienbein spürte.

»Das heißt, du wirst jeden Abend fünf Mal ermordet?« kicherte Ann und versucht ihre eigene Aufgeregtheit ob der großartigen Neuigkeiten etwas zu lockern.

»Ja, so etwa« lächelt Maggie sanft und selbstzufrieden.

»Und es ist bestimmt ein Kostümstück, oder? Mit den großen und wallenden viktorianischen Kleidern, nicht wahr, das finde ich so beeindruckend…«

»Nein, da muss ich dich enttäuschen Ann, du wirst es bei der Uraufführung ja sehen, wenn du dabei sein magst. Es ist eine sehr moderne Inszenierung.«

»Modern oder _sehr_ modern?« Tim schwante, dass es noch interessant werden würde.

»Ziemlich modern« kommentierte nun John sarkastisch und nahm seinerseits einen größeren Schluck Rotwein.

»Wir arbeiten minimalistisch. Alle Kostüme sind mehr Metaphern, als Kleidung. Das Bühnenbild besteht nur aus einfachen nackten schwarzen Wänden. Der Ripper trägt ein einfaches schwarzes Langarmschirt, schwarze Handschuhe und einen bodenlangen schwarzen Rock, was ihn als Kreatur der Nacht, als animalischen Körper kennzeichnet. Er verschmilzt regelrecht mit den Wänden von Whitechappel, er ist Whitechappel. Weil er bis heute ein Mysterium ist und ein Phantom, ein Dämon aus der Hölle, ist er maskiert. Über dem Kopf trägt er eine Haube, so ein Ding mit einem Reißverschluss über dem Mund und den Augen, wie man es im Sexshop für Sadomaso Praktiken bekommt.«

Wieder etwas betretenes Schweigen. »Ziemlich modern« wiederholte John schließlich leise und nahm der Einfachheit halber noch einen Schluck.

»Und welche _Metaphern_ tragen die Opfer als Klamotten?« wollte Ann nun wissen. Irgendwie wurde hierüber noch verdächtig wenig gesprochen.

»Gar keine.« retunierte Maggie knapp.